Die Entwicklung der Technik zur Erhebung von Bioinformationen über Mobiltelefone und andere Sensoren nimmt rasant zu. Eine ganze Industrie beschäftigt sich mit den Vorteilen dieser Möglichkeiten. Es ist nicht zu bestreiten, dass über dieser Technik viel Informationen, sowohl über den grundsätzlichen Zustand oder das Funktionieren des Körpers, als auch über das Verhalten des Menschen zu erhalten sind und sie möglicherweise eine Hilfe bei akuten oder schleichenden Prozessen sein kann. Manche glauben auch, dass damit die oft zeitraubende Befragung des Patienten sein Ende finden wird – ist dem jedoch sinnvollerweise so?
Anamnese
Anamnese, oder auch die Erhebung der Krankengeschichte durch die Befragung des Patienten, wird erst seit dem 14. und 15. Jahrhundert als diagnostisches Mittel angewendet und ist aus dem heutigen diagnostischen Prozess (eigentlich) nicht mehr wegzudenken – zumindest wenn der Patient ansprechbar und zurechnungsfähig ist. Ist nun jedoch die gründliche Erhebung der Gesundheits- und Krankengeschichte tatsächlich von Wichtigkeit? Oder können wir alleine durch die körperliche und erweiterte Untersuchung (Laboruntersuchungen, bildgebende Verfahren usw.) alle relevanten Informationen erhalten, die wir für eine gezielte Therapie benötigen?
Gesundheit, ein großes Gut. Bio-Psycho-Soziale Komponenten sind vorhanden, manche betrachten Gesundheit zudem soziopolitisch. Sind biologische Parameter somit die einzigen, die eine Erkrankung zeigen oder nachweisen oder sind persönliche Parameter, wie das Empfinden, Einschätzen und Betrachten der Beschwerden oder der eigenen Lebenssituation, ebenso wesentlich?
Die Anamnese ist (bislang) richtungsgebend für die weiteren Untersuchungen, sei es die klinische oder die anschließenden erweiterten Untersuchungen. Die Beschwerden des Patienten mit Ort und Umfang (wo), Art (wie, welche) und Verlauf – mit den bereits durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen – (wann, seit wann, womit/wodurch) sind notwendig, um diagnostische Fehler zu vermeiden – sowohl zu viele oder falsche als auch zu wenig Untersuchungen.
Weiche Parameter sind wichtig
Bis hierhin sprechen wir von den Beschwerden, noch nicht vom Empfinden des Patienten. Letzteres jedoch ist im Praxisalltag meist ausschlaggebend für jene Art von Beschwerden, die keine bedeutenden strukturellen oder morphologischen Komponenten haben und somit weder ausreichend medikamentös, operativ oder mittels Orthesen oder Bestrahlungen behandelt werden können. Typische „harte“ biologische Parameter sind für Diagnostik und Therapie somit nicht anwendbar. Das was bleibt sind die „weichen“ Parameter, wie die eigene Einschätzung des Patienten über seinen Zustand und dessen Veränderbarkeit, klinische Auslösbarkeit der Beschwerden und funktionelle Befunde – wozu Empfindlichkeit, Spannung, Komprimier- und Dehnbarkeit und Aktivitätszustand des (betroffenen) Gewebes, sowie die Gleitfähigkeit der Gewebe gegeneinander dienen (können).
Das Erfassen der persönlichen Biografie, mit Gesundheits- und Krankengeschichte, kann durch den Dschungel der vielen therapeutischen Möglichkeiten führen, vorausgesetzt, der Behandler bleibt offen für das Verändern des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens, wenn sich die Beschwerden nicht ausreichend verbessern oder stabil bleiben. Somit ist die Befragung nicht nur am Anfang der Diagnostik notwendig, sondern begleitet Patient und Arzt/Therapeut durch die gesamte diagnostisch-therapeutische Zeit. Oder anders ausgedrückt: für das Aufstellen einer sinnvollen diagnostisch-therapeutischen Arbeitshypothese und die Betrachtung der Sinnhaftigkeit im Laufe der Zeit, ist die wiederholte Befragung des Patienten, und damit seine Einbindung in den Gesamtprozess, unverzichtbar.
Mit den Erfahrungen aus meiner Praxistätigkeit, worin bereits jetzt Patienten gehäuft über Jahre oder Jahrzehnte nicht gehört werden, bekomme ich, bei der „Perspektive“ der digitalen Körperfunktionsüberwachung zur endgültigen Beurteilung des Gesundheitszustandes, ziemliche Bedenken.
Euer Gert