Vor einiger Zeit las ich im Ärzteblatt einen Artikel, der mir danach stets immer wieder in den Sinn kam. Er handelte über die Veränderungen im ärztlichen Berufsgelöbnis, einen Wandel in Richtung Selbstbestimmung und Autonomie des kranken Menschen. Mir stellte sich dabei die Frage, wie dies in der täglichen Praxis Anwendung findet und finden könnte.
Viele Therapeutinnen und Therapeuten kennen es – der Alltag ist zeitlich stressig und ist doch nicht selten von hohen Erwartungen geprägt: Erwartungen des Patienten, der Angehörigen, der Arbeitgeber oder von den eigenen – denn es möge dem Menschen schnell und am liebsten dauerhaft besser gehen. Manch einer von uns fühlt sich dann berufen, die Kompetenz des Patienten aus den Augen zu verlieren und dabei die eigene Analyse oder Behandlungsmethode überzubewerten. Glücklicherweise verlaufen viele Behandlungen trotzdem gut. Aber könnte die Selbstbestimmung und Autonomie des Patienten nicht womöglich die Gesundheit dauerhaft und ganzheitlicher fördern?
Im ärztlichen Gelöbnis steht „die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der Patientinnen und Patienten soll oberstes Gebot sein.“ Das gilt natürlich auch für die nicht-ärztlichen Behandler*innen. Was wird dabei jedoch als „Gesundheit“ angenommen?
Gesundheit ist nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Das bedeutet, dass es nicht ausschließlich darum geht, die körperlichen Symptome zu lindern.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schreibt zum Thema Gesundheit Folgendes:
„Gesundheit ist also kein eindeutig definierbares Konstrukt; sie ist schwer fassbar und nur schwer zu beschreiben. Heute besteht in den Sozialwissenschaften und der Medizin Einigkeit darüber, dass Gesundheit mehrdimensional betrachtet werden muss: Neben körperlichem Wohlbefinden […] und psychischem Wohlbefinden (z.B. Freude, Glück, Lebenszufriedenheit) gehören auch Leistungsfähigkeit, Selbstverwirklichung und Sinnfindung dazu. Gesundheit hängt ab vom Vorhandensein, von der Wahrnehmung und dem Umgang mit Belastungen, von Risiken und Gefährdungen durch die soziale und ökologische Umwelt sowie vom Vorhandensein, von der Wahrnehmung, Erschließung und Inanspruchnahme von Ressourcen. Die Sozialwissenschaftlichen Definitionsversuche des Phänomens Gesundheit zeichnen sich dabei durch eine Komplexität aus, die historisch betrachtet als neu zu bezeichnen ist.“
Auch hier finden wir wieder, dass es neben den körperlichen Aspekten viele andere gibt, die den Menschen dazu verhelfen gesund zu sein.
Zum ärztlichen Gelöbnis hinzugefügt wurde: „Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patienten oder meines Patienten respektieren.“ – etwas befremdlich für mich, wenn bereits im Grundgesetz verankert ist, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, gut jedoch, dass es explizit erwähnt wird.
Wir ,als Zugehörige einer medizinischen Berufsgruppe, haben die Möglichkeit, den Menschen zu empfehlen Risiken zu meiden (Prävention) und gesundheitsförderliche Maßnahmen anzuwenden – ganz abgesehen von den spezifischen Maßnahmen, die wir in unserem Beruf durchführen können. Was jedoch für den jeweiligen Menschen tatsächlich hilfreich ist, was er sich genau wünscht, wie das dann erreichbar sein könnte – auch autonom ohne mich –, und vieles mehr kann nur mit dem Menschen in seiner speziellen Situation mit sich und in seinem eigenen Umfeld und Umwelt angeschaut werden – vielleicht kann das als Achtung der Würde angesehen werden.
Was wir dabei durchaus überlegen dürfen ist, ob wir dem Menschen dann als wirklich selbstbestimmt ansehen und wir mit einer empathischen Herangehensweise auch die Eigenkompetenzen des Einzelnen einbeziehen. Aus meiner Sicht sind dabei die sogenannten “Soft-Skills“ sehr wichtig – aktives Zuhören, sorgfältiges Nachfragen und behutsames Verbalisieren von Informationen, die sich „zwischen den Zeilen“ befinden können.
Egal, ob wir DIE Spezialisten für den Körper und deren Funktionen sind, wenn wir „Ganzheitlichkeit“ ernst nehmen wollen, dann betrachten wir mehr als nur das und lassen den Menschen wissen, dass seine Eigenkompetenz die ganze Zeit wichtig ist, dass wir diese würdigen und für einen sinnvollen Gesundungsprozess benötigen.
Euer Gert
Quelle: https://www.aerzteblatt.de/archiv/194278/Weltaerztebund-Revision-des-aerztlichen-Geloebnisses