Ist das Verschmelzen von mir als Therapeutin und von Seiten des Patienten gelungen, beginnt das Fühlen. Es geht zum einen darum, zu fühlen was jetzt gerade im Körper passiert, zum anderen was eine Kraft, die ich auf den Körper des Patienten bringe, bewirkt- sei sie physikalischer, energetischer oder verbaler Natur. Nur so ist eine unmittelbare Anpassung meiner angebotenen Kraft auf die Reaktion des Systems möglich und lässt die angewandte „Technik“ individuell abstimmbar auf die Möglichkeiten und Grenzen des Gewebes, des Systems und des Menschen werden. Ein so behandelter Mensch fühlt sich meist „gesehen“ und häufig in seinem Wesen berührt. Dies wiederum eröffnet den in unserem Kontext häufig erwähnten sicheren Raum, in dem die begleitete Innenschau – unter der Voraussetzung von „Wertungsfreiheit“, „neutraler Empathie“, „Toleranz“, „Realitätsbezug“, „Authentizität“, „parteilosem Verständnis“ – stattfinden kann.
Was haben diese Voraussetzungen aber praktisch betrachtet mit der Fähigkeit zu Fühlen zu tun? Einfach gesagt: Wertung findet im Kopf statt und Fühlen im Körper. Solange ich mich als Therapeutin im Kopf aufhalte und mit Bewertungen, Meinungen und Gedanken beschäftige, kann ich nicht fühlen was sich jetzt gerade unter meinen Händen abspielt.
Bewertung bedeutet Distanz, zu mir und anderen. Therapeutische Neutralität ermöglicht Beziehung zu mir und anderen.
Unter die Lupe genommen, beginnen die Bewertungen in der Praxis häufig schon, bevor der Patient überhaupt auf der Bank liegt, indem ich mir als Therapeutin Gedanken mache wie z.B.: „Werde ich das überhaupt hinbekommen mit der Behandlung?“, „Ach jetzt kommt Herr. M., den kann ich nicht so gut leiden“, „Heute habe ich keinen guten Tag“, „Das lerne ich alles sowieso nie“, etc. Auf diese Meinungen über mich selbst, derzeitige Umstände und Befindlichkeiten vor der Behandlung ,folgen dann häufig währenddessen noch die Zweifel an den eigenen Fähigkeiten.
Genau hier fängt aber schon das Fühlen an, wie wir es für unsere Art von Arbeit benötigen. Um das JETZT wahrnehmen zu können, bedarf es des ausreichenden Verzichts auf Meinung, Zweifel, Glaubenssätzen und Vergleichen, mir selbst und der momentanen Situation gegenüber, zu Gunsten einer beschreibenden Wahrnehmung. Das ermöglicht mir aus dem Kopf in die Hände zu kommen und in das Fühlen hinein, wie etwas „wirklich“ ist, jetzt, genau in diesem Moment. Nur beschreibend können aus meiner Sicht die meist möglichen Aspekte der momentanen Realität gesammelt werden. Eine Meinung haben bedeutet dagegen, einen wahrgenommenen Reiz durch den eigenen Erfahrungsfilter laufen zu lassen und ihn für mich auf „gut“ oder „schlecht“ zu bewerten und damit zu verändern, da Aspekte des eigentlichen Reizes herausgefiltert werden. Das Ergebnis meiner Bewertung kann zu einer Verzerrung der Realität des Patienten führen und entfernt mich eher von ihm, anstatt mich ihm näher zu bringen.
Will ich also den sicheren, neutralen Raum eröffnen und zur Innenschau bereitstellen, gilt es sich in Gedankenkontrolle zu üben und diese Art von Bewertungen zu stoppen und stattdessen in die beschreibende Wahrnehmung einer Momentaufnahme zu gehen. Möglicherweise mache ich dann die Erfahrung, dass sich zuvor gemachte Sorgen und Zweifel gar nicht bewahrheiten und, dass ich „positive“ Dinge wahrnehme, die ich mir zuvor gar nicht erdenken konnte.
Meinen emotionellen Erfahrungsschatz, mit allen seinen Höhen und Tiefen, kann ich dann später nutzen und zwar nicht als Filter, sondern wenn es darum geht den eventuell aufkommenden Gefühle des Patienten Raum zu geben und diese empathisch zu begleiten. Während des wahrnehmenden Fühlens, lasse ich ihn jedoch beiseite.
Und wie kann man das praktisch umsetzen? Zunächst gilt es eine Entscheidung zu treffen, sich der Welt des Gegenübers öffnen zu wollen und dabei auf die eigenen Meinungen, Maßstäbe und Urteile zu verzichten, denn dessen Welt könnte sich möglicherweise ganz anders darstellen und anderen Mustern folgen als die eigene. Weder besser noch schlechter, nur anders und in sich genauso folgerichtig und verständlich.
Diese bewusste Entscheidung auf Meinung zu verzichten, öffnet mich unmittelbar für das „Jetzt“, den Moment, den Körper des Patienten bewusst wahrzunehmen und für die Möglichkeit, zu fühlen was ist. Es ist eine Entscheidung zur Bewusstseinsschulung, die ich jederzeit fällen kann. „It‘s all about decisions“ sagte John Upledger dazu. Allein ein Gedanke, das Wechseln des Fokus, die Absicht und meine Wahl der Ausrichtung genügt und etwas kann sich im „Jetzt“ verändern, oder wie Upledger mal erwähnte: „the shortest distance between two points is an intansion“. Es braucht dann zugegebener Maßen im Weiteren noch Übung, um diese therapeutische Wertungsfreiheit in mir so zu installieren, dass sie automatischer einsetzbar ist. Aber dazu habe ich wiederum viel Zeit und täglich ausreichend Gelegenheit. Und wenn es nicht gleich klappt, habe ich die Möglichkeit, mich zu entscheiden auch darüber keine entwertende Meinung mehr zu haben, sondern wähle jedes Mal wieder aufs Neue- für ein therapeutisch neutrales, empathisches Verständnis für mich selbst und andere.
Friederike Groot Landeweer